Achtung - langer Text!
Nach nun endlich doch einem ganzen halben Jahr in Argentinien wird es Zeit für eine Bilanz:
Was läuft gut, was ist “muy raro” (sehr komisch), an was hat man sich gewöhnt, an was wird man sich wahrscheinlich nicht gewöhnen?
Fangen wir mit den positiven Dingen an. Das Wetter! Es ist fast immer gut und selbst im Winter (den wir aber etwas übersprungen haben) häufig sehr angenehm. Die Menschen. Man ist freundlich, grüßt sich und hilft sich auch in vielen Situationen. Das Essen und das Trinken. Da kippt die Stimmung schon etwas. Natürlich gibt es leckere Sachen wie Asado, Medialunas und Empanadas, aber nicht viel mehr. Der Wein ist super, und supergünstig, aber nur Wein ist auch kalter Kaffee.
Apropos supergünstig. Eines der gravierenden Probleme des Landes ist das Geld. Da die Regierung seit Jahren kein Abkommen mit der Weltbank und dem IWF hinbekommt, sind sie vom Kapitalmarkt abgeschnitten und finanzieren den chronisch unterfinanzierten Staat mit der Notenpresse (la impressora no paga). Das führt zu einer Inflation von über 60 % pro Jahr und das führt zu verrückten Situationen. Im Supermarkt kann man ab einem bestimmten Einkaufswert auf Raten (auch Lebensmittel) kaufen, was natürlich einem Rabatt gleichkommt. Gleichzeitig versuchen alle ihr Gehalt an den ersten Tagen des Monats auszugeben oder zu wechseln. Das führt zu merkwürdigen Verzerrungen. Der Wechselkurs, der am nächsten an diesem “Puls des Geldes” dran ist, ist der von Western Union, deren Kassen sich am Monatsanfang mit Pesos füllen und für die sie gerne auch schnell wieder Dollar oder Euro hätten, weswegen zum Monatsanfang der Wechselkurs deutlich ansteigt. Mitte des Monats fällt er wieder, aber häufig fallen auch die Preise in den Supermärkten oder es gibt große Rabatte, weil eh niemand mehr Geld hat. Gegen Ende des Monats und zu Beginn der Ferien (wenn viele Dollar in Pesos tauschen müssen) steigen die Preise und fallen die Western Union Kurse. Wer gewinnt in diesem Spiel? Natürlich, die Bank, also Western Union und Profiaufkäufer, die mit Geld spekulieren können.
Da muss der Staat doch irgendwie eingreifen? Tut er, aber auf eine komische Weise. Die Banken (außer Western Union, die irgendwie unter dem Radar segeln) sind mega reglementiert. Jeder Bürger ist “gechipt” - alle Einkäufe, alle Bankkonten, alle Überweisungen, alle Behördengänge werden über die sogenannte DNI dokumentiert. Das bedeutet, dass der Staat eigentlich genau weiß, wer wieviel Geld hat und wofür er es ausgibt. Eigentlich! Was der Staat nicht kennt, ist die Summe an “illegalen” Barbeständen in Dollar oder Euro im Land und die ist nach Schätzungen astronomisch hoch. Der Staat versucht natürlich an dieses Geld zu kommen und Geschäfte damit zu erschweren. Überall wo der schwache Arm der Exekutive noch hinkommt, sieht man das. Ein Auto anzumelden, ist eine Tortur. Ersatzteile im Ausland bestellen wahsinnig kompliziert. Post- und Zollwesen liegen am Boden. Viele Gebühren (Strom, Gas, Wasser, Grundsteuer) können nur mit Bankkarte bezahlt werden, etc. Durch die krasse Inflation und einige schwachsinnige Sozialgesetze kann es sich aber lohnen, Rechnungen, Strafzettel, Steuern einfach mal nicht zu bezahlen und erst nach der 10 Mahnung zu reagieren. Häufig muss man nur den alten Betrag (manchmal mit einer “Strafe” von 10%) bezahlen, nachdem man aber schon 50% Inflation hatte, rechnet sich das.
Aber bei uns haben sich schon viele Argentinier darüber beklagt. Man hat neben seiner normalen Arbeit auch immer noch einen Job als Finanzjongleur. Wer bringt Devisen mit, wo lege ich übriges Geld an, wieviele Ratenzahlungen laufen aus welcher Kreditkarte? Schon die Kinder bekommen das mit. In der Schule sammeln sie durch kleine Aktionen in Klasse 11 Geld für die Abifahrt in der 12. Damit das Geld aber nicht entwertet wird, müssen die Kinder Eltern oder Lehrer finden, die ihnen die hart verdienten Pesos in Dollar oder Euros umtauschen. Sonst ist der Aufwand umsonst.
Genug vom Geld, es gibt noch viele andere “interessante” Aspekte.
"Uber" und "Cabify". In Deutschland kennt man das nur vom Hörensagen und kann sich kaum vorstellen, wie praktisch das für alle Beteiligten in der Realität ist. Mit diesen “Taxi”-Dienstleistern kann man hier sehr günstig durch die Stadt kommen. Was sind die Vorteile zum normalen Taxi? Man öffnet die App, gibt sein Ziel ein und sieht
- die Dauer bis zum Ziel
- den Fahrer und seine Bewertung durch andere Gäste
- den Preis!
"Aber die Fahrer werden doch sicher ausgebeutet!" Naja. Ich bin mit vielen gefahren, die sich am Wochenende was dazu verdienen. Sie brauchen dank Handy keine besonderen Kenntnisse in Navigation oder gar extra Abrechnungsgeräte. In wenigen Minuten ist man registriert und kann direkt losfahren. Man hat keine Taxizentrale, die einen irgendwo hinschickt, man hat auch keine Standzeiten oder muss nach Kunden am Straßenrand Ausschau halten. Wenn man in der Nähe eines Kunden ist, fragt einen die App, ob man den Auftrag annehmen will oder nicht. Alles sehr einfach und übersichtlich. Und beide Systeme erlauben Barzahlung, was Spielraum für Trinkgeld lässt und sich so umsomehr eine gute Fahrer - Kunden Beziehung aufbaut. Ich hatte schon viele tolle Gespräche über Gott, seinen Stellvertreter und die Welt, also Maradona, Messi und River vs. Boca. Natürlich geht es auch um die himmelschreiende Ungerechtigkeit im Land. Fährt man aus der Stadt in Richtung Norden, kommt man automatisch über (weil sie die Autobahn darüber gebaut haben) die Villa31, eine der größten Villas misericordias Argentiniens. Also über ein Armenviertel. Da sind wir bei einem Thema, an das man sich schlecht gewöhnen kann. Wir stellen unsere Mülltüten nicht auf die Straße, sondern in Hochbehälter! Damit die Tiere nicht drankommen? Ja, auch, aber auch weil jeden Tag Menschen diesen Müll durchwühlen. Wenn wir etwas wegwerfen, das man eigentlich noch gebrauchen könnten (Tasse ohne Henkel, leere Kanister, Kabel, Pappkartons, Kleider), stellen wir das inzwischen immer neben die Müllbehälter oder geben es unserer Wache auf der Straße oder der Empleada.
Da sind wir beim Thema Sicherheit. Armut bringt Kriminalität, viel Armut bringt viel Kriminalität. Die Reichen, aber auch die Mittelschicht rüstet auf. Wer es sich leisten kann, hat einen privaten Wächter, natürlich Alarmanlagen, Stromzäune, Tore, meterhohe Mauern, Kameras etc. Wer aber noch mehr Sicherheit (und Lebensqualität) haben will, zieht in ein Barrio Cerrado, eine gesichertes Viertel. Da teilt man sich dann die Ausgaben für die Sicherheit durch viele Personen, so wird es billiger und der sichere Bereich auch viel größer, man kann die Kinder auf der Straße spielen lassen, auch mal ein Auto offen lassen oder ein Fahrrad vor der Tür stehen lassen. War das nicht eigentlich nach Adam Smith und Thomas Hobbes die eigentliche Aufgabe des Staates für innere und äußere Sicherheit zu sorgen… So erodiert natürlich der Glaube an den Staat enorm.
Weihnachten im Sommer. Habe ich ja schon geschrieben, dass es sich komisch anfühlt, zudem gibt es komische Traditionen. Die Müllabfuhr hat bei uns geklingelt und uns um eine Spende für ihre Arbeit gebeten, wir haben dafür ein Heiligenbild bekommen. Stunden später wieder die Müllabfuhr wieder ein Heiliger für 500 Pesos, dieses Mal aber die, die nachts den Müll abholen - achso, ja, hier wird der Restmüll zweimal täglich geleert, ist das in Deutschland etwa anders?
Dann die Feuerwehr und die Municipal Polizei und wieder die Müllabfuhr - halt nein, davor hat man uns gewarnt, es gibt auch falsche Müllmänner, wenn sie kein Müllauto dabei haben, sind es einfache Bettler!
Dazu gibt es noch die sogenannte Caja Feliz. Eine Geschenkbox für Weihnachten in verschiedenen Größen und Preisen. Sie stehen zu tausenden in den Supermärkten und man schenkt sie dem viel zu zahlreichen Personal. In der Schule z.B. bekommt jeder Angestellte (also die 80 Hausmeister/Wächter, der Mann, der die Batterien an den Uhren tauschen soll, die drei, die an den Kopierern stehen, der Mann, der immer rumläuft und nichts tut, usw.) eine Caja Feliz, es sind viele.
Ach ja, am Dienstag wollten wir mit den Kindern eine offene Doppelstock - Bustour (so richtig touristisch) machen. Natürlich stand weder im Internet noch an der Verkaufsstelle etwas davon, dass es die am Dienstag nicht gibt… Also sind wir in den endlich wieder geöffneten Friedhof von Recoleta gegangen, auch interessant. Vor allem, weil die "wichtigen" Gräber nicht ausgeschildert sind. Es gibt Wegweiser zum Grab von Präsident Sarmiento, den man nicht kennt. Aber zum Grab von Evita gibt's nichts. Das muss man sich zeigen lassen oder auf dem großen Übersichtsplan am Eingang suchen...